Für mich ist „Bewertungsfreiheit“ eine der wichtigsten Haltungen in Coaching, Organisationsentwicklung und Mediation. Die Transaktionsanalyse beschreibt es mit dem Satz: „Ich bin okay – du bist okay.“ Dahinter steckt die Haltung, dass alles Menschliche zunächst einmal sein darf. Und doch wissen wir alle: Bewertungsfreiheit ist leichter gesagt als gelebt.
In der Psychologie taucht sie in verschiedenen Konzepten auf:
💡 Nonjudgmental stance: eine nicht-wertende Haltung, zentral in der Achtsamkeitsforschung.
💡 Unconditional Positive Regard: Carl Rogers Idee, den Menschen als Person anzuerkennen, unabhängig von Tat oder Meinung.
💡 Mindfulness: Achtsamkeit als Fähigkeit, Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, ohne sie sofort zu bewerten.
Und die Forschung zeigt immer wieder: Diese Haltung macht einen Unterschied.
🏋♀️ Wer trainiert, Beobachtung von Interpretation zu trennen, reguliert Emotionen besser und reagiert weniger impulsiv.
🤝 Ein nicht-wertender Blick auf andere reduziert Vorurteile und erleichtert Verständigung.
💡 In Coaching-Studien gilt die Haltung des Coachs – noch vor Tools oder Methoden – als entscheidender Erfolgsfaktor.
Mein persönliches Vorbild in dem Fall: meine Austauschpartnerin Elisabeth Gartz, Gefängnispsychologin im Jugendvollzug (Kapitaldelikte!). Sie schafft es, Menschen zu sehen, nicht ihre Straftaten. Ihre innere Klarheit beeindruckt mich jedes Mal zutiefst. Dadurch macht sie erst Einsicht und Veränderung in anderen möglich.
Und gleichzeitig gilt: Bewertungsfreiheit hat Grenzen. In Familienmediationen, bei denen Kinder betroffen sind, hab ich ihn den letzten Monaten in der Ausbildung gemerkt, dass ich in den Fällen mich zu sehr regulieren muss, da ich die Seite der Kinder überdeutlich wahrnehme. Gut, dass mein Mediationsschwerpunkt Wirtschaftsmediation ist 😉 Bewertungsfreiheit bedeutet also auch, die eigenen Auslöser und Grenzen zu kennen.
Was hilft, den „Bewertungsfrei-Muskel“ zu trainieren? Ein paar Trainingsimpulse zum Start:
⭐ Wahrnehmung vs. Interpretation trennen: „Ich sehe …“ statt „Das ist …“.
⭐ Neugier kultivieren: Fragen stellen statt Urteile fällen.
⭐ Sprache reflektieren: Gedanken als Gedanken deklarieren, nicht als Fakten.
⭐ Supervision nutzen: eigene Trigger regelmäßig anschauen.
⭐ Grenzen respektieren: Aufträge ablehnen, wenn Neutralität nicht möglich ist.
Für Führungskräfte und Change-Begleiter:innen ist diese Haltung ein Game Changer:
✔️ Sie schafft psychologische Sicherheit.
✔️ Sie öffnet Räume für Lernen und Veränderung.
✔️ Sie stabilisiert Beziehungen – auch in Konflikten.
Bewertungsfreiheit ist ein Entwicklungsfeld. Je öfter wir trainieren, desto klarer, wirksamer und menschlicher können wir begleiten. Ich finde, mit zunehmenden Alter wird es noch mal einfacher.
💡 In welchen Situationen gelingt dir Bewertungsfreiheit – und wo wird es für dich besonders schwer?